AG Stuttgart-Bad Cannstatt: Beschluss v. 26.11.1996 – XVII 101/96

Sender, die der Feststellung dienen, wann ein Heiminsasse ein offen geführtes Heim verläßt, unterliegen der Genehmigungspflicht nach § 1906 IV BGB. Sie sind nicht schlechthin unzulässig. Ihre Vereinbarkeit mit Art. 1 I GG hängt vielmehr im Einzelfall von der Intensität der durch sie herbeigeführten Kontrolle und den zur Verfügung stehenden Alternativen ab.

Zur Abgrenzung der Anwendungsbereiche der Abs. I und IV des § 1906 BGB.

 

Die Betroffene leidet an einem dementiellen Abbauprozeß auf dem Boden einer cerebralen Gefäßsklerose. Aufgrund dieser Erkrankung ist ihr Altgedächtnis sehr lückenhaft, ihre Merkfähigkeit nahezu aufgehoben und kommt es zu regelmäßigen nächtlichen Unruhe- und Verwirrtheitszuständen. Sie neigt dann dazu, aus dem Heim, in dem sie lebt, fortzulaufen, findet sich jedoch außerhalb des Heims nicht mehr zurecht.

Die Betr. wird im Heim mit einem Armbandsender ausgestattet, der einen Alarm auslöst, wenn die Betr. unbeaufsichtigt das Heim verläßt. Sie wird dann vom Personal ohne Gewaltanwendung ins Heim zurückgebracht.

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Es handelt sich bei dem Armbandsender um eine freiheitsentziehende Maßnahme i. S. von § 1906 IV BGB.

Der Armbandsender entzieht der Betr. die persönliche Freiheit.

Freiheitsentziehung nach § 1906 BGB setzt den vollständigen oder jedenfalls teilweisen Entzug der körperlichen Bewegungsfreiheit voraus. Andere Arten von Freiheit unterfallen seinem Schutz nicht, denn es handelt sich letztlich um eine Ausführungsvorschrift zu Art. 104 II GG.

Es fällt aber nicht schon jede Maßnahme, die verhindern soll, daß jemand sich von einem Ort an einen anderen bewegt, unter § 1906 BGB.  …

Der Armbandsender stellt eine Freiheitsentziehung in dem eben dargestellten Sinne dar.

Richtig ist zwar der Hinweis des Geräteherstellers, daß der Sender selbst die Bewegungsfreiheit seines Trägers nicht einschränkt, sondern daß hierzu zusätzliche Maßnahmen des Heims erforderlich sind. Nicht gefolgt werden kann jedoch der vom Hersteller hieraus gezogenen Schlußfolgerung, daß deswegen nur die vom Heim getroffenen Vorkehrungen für den Fall des Alarms einer isolierten Prüfung nach § 1906 BGB zu unterziehen sind. Denn eine solche Betrachtungsweise würde einen zusammenhängenden Vorgang künstlich in zwei getrennte Teile spalten. Tatsächlich sind eben weder die vom Heim getroffenen Vorkehrungen ohne den Sender denkbar, noch macht der Sender ohne solche Vorkehrungen irgendeinen Sinn. Daher ist beides im Zusammenhang zu betrachten.

Im Zusammenhang betrachtet, stellt die Maßnahme nicht lediglich eine rechtlich unbeachtliche Freiheitsbeschränkung dar. Es ist nämlich im Alltag gerade nicht üblich, andere mit technischen Hilfsmitteln zu überwachen, um ihren Ortswechsel zu unterbinden.

Der Armbandsender macht den Aufenthalt der Betr. in dem Heim nicht zu einer freiheitsentziehenden Unterbringung i. S. von § 1906 I BGB, unterfällt folglich den freiheitsentziehenden Maßnahmen des Abs. IV derselben Vorschrift.

Es wird aus dem Gesetz nicht deutlich, worin der Unterschied zwischen einer „Unterbringung, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist“, und der Freiheitsentziehung bei dem Betr., der „sich in einer Anstalt befindet, ohne untergebracht zu sein“, genau besteht. …

Es ist zu fragen, wann denn jemand in einer Anstalt nicht untergebracht ist, obwohl ihm die Freiheit dort (dauernd oder regelmäßig) entzogen wird. Der Unterschied zur Unterbringung kann letztlich nur in dem Mittel liegen, mit dem die Freiheit entzogen wird. Haftet dieses, wie z. B. alle Arten von baulichen Sperren, der Anstalt als solcher an, begründet es eine Unterbringung. Handelt es sich dagegen um ein individuelles Mittel, die Freiheit zu entziehen, das über den Charakter der Anstalt für sich betrachtet nichts aussagt, fällt es in den Anwendungsbereich des § 1905 IV BGB.

Diese Abgrenzung scheint dem Gericht die einzige zu sein, die mit der Gesetzesneufassung vereinbar ist. Anstaltsbezogene, allgemeine Hindernisse, die alle Insassen einer Anstalt grundsätzlich gleichermaßen treffen, können daher nur eine freiheitsentziehende Unterbringung i. S. von § 1906 I BGB begründen, aber nicht nach § 1906 IV BGB genehmigt werden. Individuelle, auf den einzelnen Insassen zugeschnittene Freiheitsentziehungen, die die anderen Anstaltsinsassen nicht berühren, fallen dagegen unter § 1906 IV BGB.

Der Armbandsender liegt im Grenzbereich dieser Unterscheidung, da er nur funktionsfähig ist, wenn zu der individuellen Ausstattung mit dem Sender die Empfangsanlagen hinzukommen, die in den Baukörper des Heimes einzubauen sind. Im Ergebnis ist er jedoch dem § 1906 IV BGB zuzuordnen. Denn der Schwerpunkt seiner Bedeutung liegt in der Ausstattung einzelner Heiminsassen mit einem Sender. Die dazu notwendigen baulichen Veränderungen haben nur dienenden Charakter. Insbesondere sind sie für all diejenigen Heiminsassen ohne jede Bedeutung, die nicht mit einem Armbandsender ausgestattet sind.

Die Maßnahmen, mit denen im Falle eines Alarms die Betr. vom Heimpersonal in das Heim zurückgebracht wird, sind nicht zusätzlich genehmigungspflichtig. Dies wären sie nur dann, wenn sie qualitativ die unter Nr. 1 a näher bezeichnete Schwelle überschreiten würden und wenn sie außerdem dauernd oder regelmäßig notwendig wären. Für ersteres ist schon nichts ersichtlich. Jedenfalls ist aber letzteres nicht der Fall. Die Betr. ist schon seit Juni 1996 mit einem Sender ausgestattet. In dieser Zeit ist es nur ein einziges Mal zu einem Alarm gekommen. Freiheitsentziehende Maßnahmen, die nur selten und in ganz unregelmäßigen Abständen notwendig werden, unterfallen nicht dem § 1906 IV BGB.

Der Antrag ist auch begründet. Die Ausstattung der Betr. mit dem Armbandsender entspricht ihrem Wohl und ist erforderlich, um eine erhebliche Gefahr für ihre Gesundheit abzuwenden (§ 1906 IV, I Nr. 1 BGB).

Sendeanlagen dieser Art verstoßen nicht von vornherein gegen Art. 1 I GG. Der gegenteiligen Auffassung des AmtsG Hannover (BtPrax 1992, 113 ff.) vermag sich das Gericht nicht anzuschließen.

Einzuräumen ist allerdings, daß elektronische Überwachungssysteme, die am Menschen angewandt werden, die Menschenwürde berühren. Dies führt aber nicht zu ihrer generellen Unzulässigkeit. Es ist vielmehr eine Frage des Einzelfalles, vor allem der Intensität der durch die technische Einrichtung herbeigeführten Kontrolle und der zur Verfügung stehenden Alternativen, ob das Mittel als menschenunwürdig zu betrachten ist. Hieran gemessen ist zumindest das im vorliegenden Fall angewandte Überwachungsmittel nicht schlechthin unzulässig. Die Intensität der Überwachung ist vergleichsweise gering. Eine andere Information als die, ob die Bet. das Haus verläßt oder nicht, läßt sich durch den Armbandsender nicht gewinnen. Es ist insbesondere in keiner Weise feststellbar, in welchem Teil des relativ weitläufigen Gebäudes sie sich gerade aufhält.

Die einzige zur Verfügung stehende Alternative wäre die Einweisung in ein anderes Heim mit geschlossener Abteilung. Das wäre aber der ungleich schwerer wiegende Eingriff in die Persönlichkeit der Betr. Denn verschlossene Türen würde sie realisieren. Da sie selbst aufgrund ihrer Erkrankung nicht einordnen könnte, wozu diese notwendig sind, würde sie dieses Eingesperrtsein erheblich belasten. Den Armbandsender dagegen registriert sie kaum. Sie kennt seinen Zweck nur, wenn man sie daran erinnert. Da sie ihn inzwischen immer am Fußgelenk unter dem Strumpf trägt, also äußerlich nicht erkennbar, wird sie durch ihn auch nicht unter den anderen Heimbewohnern stigmatisiert. Hinzu kommt, dass der Umzug in ein anderes Heim eine zusätzliche erhebliche Belastung der Betr. bedeuten würde.

Eine andere Alternative als die geschlossene Unterbringung ist nicht erkennbar. Insbesondere kann vom Träger des Heims nicht verlangt werden, die Pforte Tag und Nacht zu besetzen. Denn eine solche Besetzung ist in offen geführten Heimen absolut unüblich.

Unter diesen konkreten Umständen wird die Betr. durch den Armbandsender nicht in ihrer Menschenwürde verletzt.

Details zur Entscheidung

 

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