Zwangsmaßnahmen und freiheitsentziehende Maßnahmen im Kontext von Autismus-Spektrum-Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
Am Donnerstag, den 30. November 2023 fand in der Zeit von 9.00 Uhr bis 16.00 Uhr die Online-Tagung statt.
Am Online-Fachtag 2023 hatten sich 300 Teilnehmer angemeldet und interagierten mit den Referenten in einer auch inhaltlich prallvollen Veranstaltung.
Moderation
Josef Wassermann
Dr. Sebastian Kirsch
Tagungsprogramm
9.00 – 9.15 Uhr Grußwort KSH
Karin Rothmund begrüßte die Referenten und Teilnehmer im Namen der katholischen Stiftungshochschule und rekapitulierte die nunmehr 10-jährige Zusammenarbeit und die sich dabei ergebende ständige Erweiterung.
9.15 – 9.45 Uhr Begrüßung und Einführung
Josef Wassermann
Dr. Sebastian Kirsch
Josef Wassermann übernahm die Begrüßung im Namen des Werdenfelser Wegs und gab einen ersten Einblick in die Welt des Autismus anhand eines Selbstberichts einer autistischen Autorin.
Dr. Kirsch schlug den Bogen zur Relevanz der Frage von freiheitsentziehenden Maßnahmen bei autistischen Patienten oder Bewohnern.
9.45 – 10.45 Uhr Herausforderndes Verhalten bei Autismus-Spektrum-Störungen
Wie wird Erlebtes wahrgenommen und verarbeitet.
Prof.Dr.med.Vitalij Kazin (MHBA),
Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie,
Naturheilverfahren, Schaffhausen
Eine ganz wichtige Lebensstation, seitdem er in der Bundesrepublik lebt, war seit 1995 das Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren.
Er durchlief dort die Stationen eines Assistenzarztes, später eines Oberarztes und hat zugleich in die Sonderfunktion eines Landesarztes für geistig behinderte Erwachsene für den Bezirk Schwaben übernommen. Er wurde schließlich Chefarzt des Zentrums für Psychiatrie, Psychotherapie und Heilpädagogik.
Er wechselte als Chefarzt in die Klinik St.Georg im Schwarzwald und wurde anschließend Leiter einer Akutpsychiatrie in der Schweiz.
Seit 2016 ist er Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Psychiatrie und Neurologie, er ist Vize-Rektorder Venlo-Universität in Holland, außerdem arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Auckland-Universität, als Honorarprofessor in Perm, Moskau und Budapest sowie als Referent an mehreren Fortbildungsinstituten weltweit.
Zu seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten gehört Autismus, beispielsweise auch Indikationen und Fragen von Therapien mit Psychopharmaka bei Menschen mit Autismusspektrum-Störungen.
Er machte deutlich, dass es sich bei AutismusSpektrumsstörung um ein breit gefächertes Krankheitsbild mit Entwicklungsstörungen bei Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und Kommunikation handelt, die lebenslang anhält und kostenintensiv in der Begleitung sei. Es gebe eine hohe Komorbidität, sodass als weitere Erkrankungen Psychosen, Depressionen, ADHS, Zwangsstörungen oder soziale Phobien zu beobachten seien.
Herausfordernde Verhalten in diesem Zusammenhang bezeichnete er als psychiatrischen Notfall, der fachliche Interventionen notwendig mache. Bei Herausforderndem Verhalten stelle man fest, dass es oft erlernt sei, immer kontextbezogen beurteilt werden müsse und einem persönlichen Zweck des Betroffenen diene. Andererseits müsse man sich klar sein, dass Unterstützungskonzepte oft lebenslange Perspektiven hätten.
In diesem Zusammenhang beschrieb er das Autisten häufig Auffälligkeiten beim Hören (zum Beispiel Überempfindlichkeit bzw. Wahrnehmungen körpereigener Geräusche) hätten, auch beim Sehen, Riechen, Schmecken und Tasten gebe es bei vielen Autisten Auffälligkeiten.
Er zitierte mehrere Textstellen aus dem Buch des autistischen Autors Axel Brauns („ Buntschatten und Fledermäuse“), das er als beeindruckende und unterhaltsame Beschreibung autistischen Erlebens empfahl.
Er sprach über das Konzept TEACCH, das nach seiner Einschätzung das einzige Konzept für die Behandlung von Autismus sei und zum Ziel habe, problematisches Verhalten zu reduzieren und eine selbstständige Entwicklung zu fördern mit den Zielen einer höheren Lebensqualität und der Eingliederung in den Arbeitsablauf.
Er beschrieb die Arbeitsprozesse im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren zu der Zeit, als er sich dort intensiv mit dieser Verhaltensauffälligkeit befasste und konnte an mehreren Fallbeispielen erläutern, welche diversen Angebote von autistischen Patienten angenommen wurden. Zeitweise habe man bis zu 30 Unterstützungsangebote gleichzeitig zur Auswahl stellen können.
10.45 – 11.00 Uhr Kaffeepause
11.00 – 12.00 Uhr Ärztliches Behandlungssetting von Patienten mit Autismus-Spektrum-Störung (ambulant oder stationär)
Prof. Dr. Peter Martin, Chefarzt Séguin-Klinik
Nach der Facharztausbildung zum Arzt für Neurologie und Psychiatrie arbeitete er am Epilelepsiezentrum in Kork als Oberarzt der Erwachsenenklinik.
Weil er damals zu die diagnostischen und therapeutischen Angebote für Jugendliche und Erwachsene mit geistiger oder mehrfacher Behinderung als unzureichend erachtete, begann er ab Ende der 1990er Jahre, sich intensiv mit den spezifischen medizinischen Problemen dieser Personengruppe zu beschäftigen.
Er konnte eine Spezialabteilung mit Ambulanz und Bettenstation für diese Personengruppe in Kork ins Leben rufen. Daraus entstand ab 2009 eine eigenständige Klinik, die Séguin-Klinik, mit zwei Betten- stationen und, ab 2013, ein Medizinischen Zentrum für Erwachsene mit Behinderung geworden ist.
An der medizinischen Fakultät der Universität Freiburg unterrichtet er seit 2005 Medizinstudenten in unterschiedlichen Lehrveranstaltungen, v.a. in einem Wahlpflichtfach zur Medizin bei Menschen mit geistiger Behinderung.
Seit 2008 ist er wissenschaftlicher Leiter der Fortbildungsreihe „Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung“, in dem wir uns auch kennen gelernt haben und in die ich mich immer wieder auch einbringen kann. Und er ist seit 2005 Mitherausgeber und Schriftleiter der medizinischen Fachzeitschrift „Inklusive Medizin“.
In einem weiteren Vortrag sprach Professor Peter über Behandlungssituationen bei autistischen Patienten, insbesondere dann, wenn somatische Erkrankungen einer Behandlung bedürfen.
Er stellte dabei fest, dass 50 % der Patienten aus der Autismus Spektrum Störung auch intellektuelle Beeinträchtigungen hätten, 20 % sogar mittelschwere intellektuelle Beeinträchtigungen. Auch ADHS sei zu einem hohen Prozentsatz festzustellen.
Es sei in jedem Einzelfall notwendig, Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen zu suchen, sie seien immer nur das letzte Mittel der Wahl.
Es sei von zentraler Bedeutung Kommunikationsmöglichkeiten zu finden und in entspannten Phasen Alternativen einzuüben, beispielsweise für Rahmenbedingungen beim Essen. Zentral sei für die ärztliche und pflegerische Begleitung, sehr viel Informationen über den Patienten einzuholen, beispielsweise in der Familie, bei den Betreuern oder im Wohnumfeld des Betroffenen, gerade auch um seine Verhaltensweisen einordnen zu können und seine Ausdrucksformen der Kommunikation erkennen zu können.
12.00 – 12.45 Uhr Mittagspause
12.45 – 13.30 Uhr Freiheitsentziehende Maßnahmen sind falsch – Erfahrungen einer Mutter
Dr. Jutta Kossat
Frau Jutta Kossat referierte aus dem Blickwinkel einer Ärztin und Traumatherapeutin einerseits und Mutter eines mittlerweile 29-jährigen autistischen Sohnes andererseits.
Sie konnte den Blickwinkel ihres Sohnes auf freiheitsentziehenden Maßnahmen vermitteln. Er habe es als Ohnmachtssituationen empfunden, die traumatisierend auf ihn gewirkt hätten. Es hätte sich ein Negativkreislauf ergeben, der in der Einrichtung, in der er lebte, zu wochenlangen Dauerfixierungen geführt habe. Ihr Sohn habe 8 Jahre Zimmereinschluss erlebt. Sie beschrieb, welche zuvor bereits bestehenden Fähigkeiten in dieser Zeit verloren schienen.
Sie beschrieb den anschließenden ungeheuren Aufwand, der in der Familie und mit professioneller Hilfe zu Hause betrieben wurde, um ihrem Sohn ein Leben außerhalb einer Einrichtung zu ermöglichen. Sie plädierte in den Fällen, in denen das zur Vermeidung nachhaltiger Fixierungen notwendig wäre, eine 1 : 1 Assistenz zu akzeptieren, auch wenn sie mit großem Kostenaufwand verbunden sei. Letztendlich stellte sie die Frage, ob die Gesellschaft in Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention in diesen Fällen bereit ist, für den Aufwand aufzukommen oder die grundsätzliche Entscheidung trifft, dass in derartigen Fällen mit geringerem Kostenaufwand dauerhafte Fixierungen, die vermeidbar wären, in Kauf genommen werden.
13.30 – 14:15 Uhr Das Gehirn verstehen – Verhalten verändern
Lily Merklin
Reitpädagogin, Psychologin, Körpertherapeutin
Aus der Schweiz beteiligte sich Frau Lilly Merklin am Vortragstag, die in verständlicherweise Einblicke in die Hirnstruktur gab und ein Modell zu grundlegenden Aspekten des psychischen Systems erläuterte. Sie zog den Schluss, dass es häufig leichter sei, die Situation zu verändern, in der sich ein autistischer Patient befindet, als zu versuchen, den Autisten zu verändern.
Sie nutzte das Bild, dass man neue Trampelpfade im Hirn so anlegen und unterstützen müsse, dass sie sich zu Autobahnen weiterentwickeln können.
Wenn das nicht gelinge, bleibe der Patient in seinem Verhalten auf der eingeübten Autobahn.
Im Umgang mit autistischen Patienten sei das A und O, ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln und Struktur und Verlässlichkeit anzubieten. Wenn soziale Momente geschaffen werden könnten, sei das gut, Augen- und Körperkontakt könnten in Einzelfällen zusätzlich helfen, dies sei aber sehr individuell als Angebot zu beurteilen.
Sie führte den Teilnehmern vor Augen, wie unser aller Reaktionen auf Stress durch die verschiedenen Ebenen der Hirnstrukturen erklärbar wären und machte deutlich, dass auch an diesem Modell die Reaktion auf das Verhalten ansetzen sollte. Am Ende schilderte sie ihr leicht verständliches Modell der Echse im Kopf, mit der sie Kindern dieses Phänomen erkläre.
14.15 – 14.45 Uhr Kaffeepause
14.45 – 15.45 Uhr Ein Koffer voller Ideen
Petra Wolf
Frau Wolf ist Fachwirtin für Soziales und Gesundheitswesen, Erzieherin, Sozialmanagerin, Coach, Mediatorin, und Verfahrenspflegerin/- beistand nach dem Werdenfelser Weg, aber irgendwie werden die ganzen Umschreibungen ihr nicht annähernd nicht gerecht, weil sie nicht die Besonderheit dieses Menschen beschreiben.
Sie ist seit über 20 Jahren im Autismus Bereich tätig. Aber die trockene Nennung einer Anzahl von Jahren bringt nicht die Leidenschaft zum Ausdruck, mit der sie sich ins Thema einbringt. Sie lebt seit 20 Jahren für Autismus.
Sie hat langjährige Erfahrung in der praktischen Arbeit und als Einrichtungsleitung. Als Referentin und Coach ist sie im In- und Ausland tätig. Die Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Einrichtungen und Behörden zur Verbesserung der Bedingungen für Menschen mit Behinderungen, speziell aus dem Autismusspektrum gehört zu ihrer Hauptaufgabe.
Sie beeindruckt mich immer wieder, wie sie Kommunikationswege herstellt und mit Betroffenen einübt.
Sie lebt für Menschen aus dem Autismusspektrum mit Verhaltensbesonderheiten und macht dies in Form von Teamcoaching, Konzeptionserstellung und –prüfung.
Abschließend schilderte Frau Petra Wolf aus ihrer Praxis eine Vielzahl von Ideen für Angebote an autistische Kunden, individuellen Nutzen zu ziehen, den sie erstreben.
Sie ging davon aus, dass ein Autist nichts machen würde, was ihm nicht subjektiv nütze.
Deswegen setze sie oft daran an, zu erkunden, was der Autist als Angebot annehmen könne, um für sich eine Lösung zu finden, die vergleichbaren Nutzen hat.
Sie stellte Riechpatronen mit dem Lieblingsgeruch vor, die es ermöglichen, dass der Patient jederzeit auf diesen Lieblingsgeruch zurückgreifen kann. Zum Stressabbau führte sie Kältearmbänder vor und Sensorikkügelchen.
Sie arbeitete mit einfachen, leicht nachvollziehbaren Beispielen heraus, wie sich unsere Logik von der Logik eines Autisten unterscheidet und führte mit diesem Perspektivenwechsel vor, dass unser Verhalten für einen Autisten als inkonsequent und nicht nachvollziehbar erscheinen muss.
Gerade bei nicht sprechenden Autisten ergebe sich dann in der Regel, dass sie unserer Interpretation dessen, was wir beobachten, ausgeliefert wären, was nicht selten auf beiden Seiten zu Frustrationen führe.
Das führe mitunter auch zu kognitiven Unterforderungen und falscher Konditionierung.
Sie gab auch zu bedenken, dass manche extreme Auffälligkeiten im einschränkenden stationären Umfeld von Autisten als letzter Teil einer Selbstbestimmung verstanden werden könne, selbst wenn sie mit erheblichen selbst Verletzungen oder Selbstbeschränkungen verbunden wären.
Wenn das passiere, dann müsse man häufig feststellen, dass wir keine Alternativen, keine Lösungen, die für den Patienten akzeptabel sein, hätten anbieten können. Eine Schlüsselfrage, die zur erfolgreichen Beurteilung einer Situation und Lösung führen könne, sei: wann komme das Verhalten niemals vor.
15.45 – 16.00 Uhr Zusammenfassung und Verabschiedung
Josef Wassermann
Dr. Sebastian Kirsch
Am Ende des Tages fasste Dr. Kirsch die Erkenntnisse aus den Referaten nochmals kurz zusammen und gab Josef Wassermann einen Ausblick auf den nächsten Fachtag, diesmal in hybrider Form am 19.07.2024 wieder auf dem Gelände der katholischen Stiftungshochschule in München.