BGH, Urteil v. 14.7.2005 – III ZR 391/04

Der Grundsatz, dass die Träger von Pflegeeinrichtungen ihre Leistungen nach dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse bzw. – soweit Heimverträge betroffen sind, für die das zum 1. 1. 2002 in Kraft getretene Heimgesetz i. d. F. vom 5. 11. 2001 (BGBl I 2970) gilt – nach dem jeweils allgemein anerkannten Stand fachlicher Erkenntnisse zu erbringen haben, ist auch bei der Frage zu beachten, wie sie auf eine hervorgetretene Sturzgefährdung von Heimbewohnern zu reagieren haben (im Anschluss an das Senatsurteil v. 28. 4. 2005 – III ZR 399/04 -, FamRZ 2005, 1074  = NJW 2005, 1937, vorgesehen für BGHZ).

 

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.

I. Das OLG, dessen Entscheidung in FamRZ 2005, 1174 [m. Anm. Bienwald, S. 1176] und in PflR 2005, 228 (m. Anm. Süß), veröffentlicht ist, hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, weil der Bekl. nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare getan habe, um den Sturz v. 9. 3. 2000 zu verhindern. G. sei nach dem dritten Sturz im Februar 2000 akut sturzgefährdet gewesen. Angesichts des Umstandes, dass G. jeweils zur Nachtzeit in ihrem Zimmer gestürzt sei, hätten die vom Personal des Bekl. ergriffenen Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Stürze nicht genügt. Der Ernst der Lage hätte es geboten, unter Einschaltung eines Arztes, der Heimleitung oder auch des Neffen oder anderer Vertrauenspersonen das intensive Gespräch mit G. zu suchen und eindringlich darauf hinzuwirken, dass sie vielleicht doch ihr Einverständnis zum Hochziehen des Bettgitters in der Nachtzeit erteile. Hätte dies nicht erreicht werden können, hätte wegen der zeitweise auftretenden Verwirrtheit der G. das VormG über die Situation informiert werden müssen. Die nachts vorhandene Sturzgefahr sei so groß und akut gewesen, dass die Anordnung des Hochziehens des Bettgitters in der Nachtzeit im Rahmen der gemäß § 1906 IV BGB vorzunehmenden Abwägung erforderlich und verhältnismäßig gewesen sei. Möglicherweise hätte auch die Einleitung eines solchen Verfahrens, das mit einer persönlichen Anhörung verbunden gewesen wäre, zu einem Sinneswandel der G. geführt. Auf der schuldhaften Unterlassung dieser berufsspezifischen Pflichten, die dem Schutz von Leben und Gesundheit dienten, beruhe auch der eingetretene Schaden. Die Ungewissheit, ob die unterlassenen Maßnahmen den Sturz verhindert hätten, gehe zulasten des Bekl.

II. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung nicht in allen Punkten stand.

  1. Richtig ist allerdings, dass dem bekl. Heimträger aus dem Heimvertrag Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Heimbewohnerin erwuchsen, deren schuldhafte Verletzung zu Schadensersatzansprüchen führen konnte, die nach § 116 I SGBX auf die Kl. übergingen (vgl. Senatsurteil v. 28. 4. 2005 – III ZR 399/04 -, FamRZ 2005, 1074, m. Anm. Bienwald, S. 1075 = NJW 2005, 1937, m. Anm. Lang/Herkenhoff, S. 1905 = PflR 2005, 267, 268, m. Anm. Roßbruch; s. auch Anm. Klie, Altenheim 7/2005, 27).

Zwar ist der genaue Inhalt des zwischen G. und dem Bekl. geschlossenen Heimvertrags nicht bekannt, weil er nicht in das Verfahren eingeführt worden ist. Der Sache nach muss es sich aber um einen der Bestimmung des § 4e HeimG i. d. F. von Art. 19 Nr. 2 des Pflege-Versicherungsgesetzes v. 26. 5. 1994 (BGBl I 1014) unterliegenden Heimvertrag mit einem Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung gehandelt haben, dessen Leistungsinhalte sich in Bezug auf die allgemeinen Pflegeleistungen sowie Unterkunft und Verpflegung und etwaige Zusatzleistungen nach dem SGBXI bestimmen. Dieses verlangt von den Pflegeeinrichtungen die Leistungserbringung nach allgemein anerkanntem Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse (§§ 11 I S. 1, 28 III SGBXI; für die Zeit ab 1. 1. 2002 vgl. auch die Regelung in § 3 I HeimG i. d. F. vom 5. 11. 2001, BGBl I 2970). Vorbehaltlich einer hiernach weitergehenden Ausgestaltung der von dem Heimträger wahrzunehmenden Pflegeaufgaben traf den Bekl. jedenfalls die oben bezeichnete Obhutspflicht.

  1. Zu Recht geht das OLG auch davon aus, dass G. akut sturzgefährdet war. Dabei ist seine Beurteilung, dass dem von der Kl. vor der Leistungsgewährung eingeholten Gutachten des Medizinischen Dienstes vom Dezember 1996 kein wesentlicher Erkenntniswert mehr für die Einschätzung des Sturzrisikos der G. zukam, weil ihre Mobilität in der Zwischenzeit verbessert worden war, nicht zu beanstanden. Das aktuelle Sturzrisiko ergab sich aber aus den drei Stürzen im Januar und Februar 2000. Auch wenn im Verfahren nicht näher geklärt worden ist, auf welche genauen Ursachen die Stürze zurückzuführen waren, folgte allein aus der Häufung dieser Vorfälle, die sich alle im Zimmer der G. zur Nachtzeit ereigneten – wahrscheinlich, weil G. die Toilette aufsuchen wollte -, ein besonderes Sturzrisiko, dem der Bekl. in einer der Situation angepassten Weise nach allgemein anerkanntem Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse Rechnung zu tragen hatte.
  1. a) Soweit das OLG jedoch zugrunde legt, der Bekl. habe es versäumt, mit G., notfalls unter Einschaltung eines Arztes oder von Vertrauenspersonen, ein intensives Gespräch mit dem Ziel zu suchen, ihr Einverständnis zu einem Hochziehen des Bettgitters in der Nachtzeit zu erteilen, rügt die Revision zu Recht, dass es den Vortrag des Bekl. hierzu nicht hinreichend berücksichtigt und im Übrigen die Entscheidung auf einen Gesichtspunkt gestützt habe, den die Parteien erkennbar übersehen bzw. für unerheblich gehalten hätten, ohne dass ihnen zuvor nach § 139 II ZPO ein entsprechender Hinweis erteilt worden sei. Nach Auffassung der Kl. war von dem Bekl. zu verlangen, angesichts der hohen Sturzgefährdung die Bewohnerin ständig zu beaufsichtigen oder sie – auch gegen ihren Willen – auf der Grundlage einer Einzelabwägung im Hinblick auf das die Beeinträchtigung der Menschenwürde überwiegende Sicherheitsinteresse zu fixieren. Daneben seien im Rahmen einer Sturzprophylaxe die Verwendung einer Sensormatratze, eines Lichtschrankensystems, Bettverstellungen, die Veränderung des Bodenbelags oder eine Hüftschutzhose in Betracht gekommen. Dem hatte der Bekl. vor allem entgegengehalten, G. habe sich immer gegen das Hochziehen des Bettgitters ausgesprochen, auch am Unfalltag. Danach stand die Frage, ob eine Pflichtverletzung in der Unterlassung eines – intensiv geführten – Gesprächs liegen könnte, außerhalb des Blickwinkels der Parteien. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem OLG wurde die für die Pflege zuständige Fachbereichsleiterin des Bekl. nicht näher zu diesem Gesichtspunkt befragt. Danach hatte der Bekl. keinen Anlass, von sich aus Verlauf und Intensität der nach den Feststellungen des OLG mit G. unstreitig geführten Gespräche näher darzulegen. Die Einschätzung dieser Gespräche durch das OLG als „mehr oder weniger routinemäßig“ und ungenügend beruht damit auf einer unzureichenden Grundlage. Es kommt hinzu, dass das OLG auch das Beweisanerbieten des Bekl. übersehen hat, nach den Stürzen i. J. 2000 sei die Situation umgehend mit dem behandelnden Arzt besprochen worden, der die Medikation der G. geändert und weitere Maßnahmen nicht für erforderlich gehalten habe.
  1. b) Es ist auch nicht hinreichend geklärt, ob der Bekl. verpflichtet war, das VormG über die Situation zu informieren. Dass die Voraussetzungen für die Einleitung einer Betreuung oder für den Erlass einer Anordnung nach §§ 1908i I, 1846 BGB vorgelegen hätten, beruht auf einer unzureichenden Würdigung des Prozessstoffs.

Zwar mochte die Bemerkung einer Mitarbeiterin des Bekl. im Unfallfragebogen „Hbw war sehr verwirrt, stand wieder von allein auf und stürzte“ einen hinreichenden Anlass bieten, der Frage näher nachzugehen, ob das Verhalten der G. als Folge einer geistigen Beeinträchtigung auf mangelhafter Einsicht in die Situation beruhen konnte und nicht Ausdruck eines frei geäußerten Willens war. Die Kl. hatte jedoch selbst nicht geltend gemacht, dass bei G. die Voraussetzungen für die Einleitung einer Betreuung vorgelegen hätten. Zudem hatte der Bekl. unter Beweisantritt vorgetragen, G. sei trotz ihres hohen Alters zeitlich, örtlich und situativ in der Regel orientiert und, was für eine Bewohnerin eines Altenpflegeheims eher ungewöhnlich sei, besonders auf ihre Unabhängigkeit bedacht gewesen. Dementsprechend habe sie zwar durchaus die Möglichkeit wahrgenommen, die Klingel zu betätigen, um Unterstützung zu erhalten, aber auch vielfach ihre Dinge selbständig durchgeführt, wie z. B. regelmäßig den Toilettengang. Vor diesem Hintergrund kann der Bemerkung „sehr verwirrt“ im Unfallfragebogen nicht ohne nähere Aufklärung die Bedeutung beigemessen werden, G. habe nicht mehr selbständig für sich entscheiden können, ob sie sich ohne fremde Hilfe abends noch einmal an ihren Zimmertisch setzen oder die Toilette aufsuchen wollte.

Von der Einschätzung der geistig-seelischen Situation der G. hängt aber weitgehend auch die Frage ab, in welcher Weise mögliche Maßnahmen zu besprechen waren, die ihre Sturzgefährdung mindern konnten. Im Übrigen müsste auch bei Einschränkungen im geistig-seelischen Bereich abgewogen werden, ob dem Wunsch des Heimbewohners, die in Rede stehenden Verrichtungen selbständig auszuführen, nicht weitgehend Rechnung zu tragen ist (vgl. Senatsurteil v. 28. 4. 2005, a. a. O., S. 1074 bzw. S. 1938, unter Bezugnahme auf § 2 I HeimG).

III. Fehlt es danach an tragfähigen Feststellungen zu einer schuldhaften Verletzung von Pflichten aus dem Heimvertrag, kann das angefochtene Urteil nicht bestehen bleiben. Die Sache ist deshalb an das OLG zurückzuverweisen.

Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die Kl. für eine mögliche Pflichtverletzung der Mitarbeiter des Bekl. beweispflichtig ist. Der Umstand, dass die Heimbewohnerin im Bereich des Pflegeheims des Bekl. gestürzt ist und sich dabei verletzt hat, erlaubt nicht den Schluss auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals (vgl. Senatsurteil v. 28. 4. 2005, a. a. O., S. 1074 bzw. S. 1938). Sollte das OLG erneut zu dem Ergebnis kommen, dem Bekl. seien Versäumnisse zuzurechnen, können der Kl. in Bezug auf die Frage, ob der Unfall auf ihnen beruht, nach allgemeinen Grundsätzen Beweiserleichterungen zugute kommen (vgl. Senatsurteil v. 21. 10. 2004 – III ZR 254/03 -, FamRZ 2005, 93 = NJW 2005, 68, 71 f.). Diese können bis zu einer Umkehrung der Beweislast reichen, wenn zur Gewissheit des Tatrichters feststeht, dass G. oder etwa für sie berufene Entscheidungsträger Vorschlägen des Bekl., das Sturzrisiko erfolgversprechend zu mindern, gefolgt wäre.

einer geistigen Beeinträchtigung auf mangelhafter Einsicht in die Situation beruhen konnte und nicht Ausdruck eines frei geäußerten Willens war. Die Kl. hatte jedoch selbst nicht geltend gemacht, dass bei G. die Voraussetzungen für die Einleitung einer Betreuung vorgelegen hätten. Zudem hatte der Bekl. unter Beweisantritt vorgetragen, G. sei trotz ihres hohen Alters zeitlich, örtlich und situativ in der Regel orientiert und, was für eine Bewohnerin 

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