BVerfG, Beschluss vom 02.06.2015, 2 BvR 2236 / 14

1. Die vorläufige Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung (§§ 331, 312 FamFG) ohne hinreichende Begründung der Erforderlichkeit sowie ohne hinreichende Sachaufklärung verletzt Art 2 Abs. 2 S. 2 GG.

2. Art 2 Abs. 2 S 2 GG verlangt eine hinreichende Aufklärung des Sachverhalts als tatsächlicher Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, müssen auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl BVerfG, 08.10.1985, 2 BvR 1150/80, BVerfGE 70, 297 ; BVerfG, 23.03.1998, 2 BvR 2270/96, NJW 1998, 1774 ). (Rn.17)

3. Das Freiheitsgrundrecht schließt zwar nicht von vornherein einen staatlichen Eingriff aus, der ausschließlich den Zweck verfolgt, einen psychisch Kranken vor sich selbst in Schutz zu nehmen und ihn zu seinem eigenen Wohl in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen. Bei weniger gewichtigen Fällen muss jedoch eine derart einschneidende Maßnahme unterbleiben und somit auch dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die „Freiheit zur Krankheit“ belassen bleiben (vgl BVerfG, 07.10.1981, 2 BvR 1194/80, BVerfGE 58, 208 ; BVerfG, 23.03.1998, aaO). (Rn.18)

 

BVerfG, Beschluss vom 02.06.2015, 2 BvR 2236 / 14

 

 

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die einstweilige Anordnung einer vorläufigen Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung.

Am 29. August 2014 stellte die Beschwerdeführerin ihre neunjährige Tochter in der Kinderklinik vor, weil sie glaubte, ihre Tochter werde mit Drogen behandelt und sei verrückt. Die Chefärztin der Kinderklinik verständigte daraufhin das Gesundheitsamt und die Psychiatrie, bei der sie das Konsil der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie H. einholte. Dabei ergab sich, dass die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit bereits in der Psychiatrie in Behandlung war.

Ein am selben Tag erstelltes ärztliches Kurzgutachten, das den Stempel des „Interdisziplinären Kinderzentrum(s), Station 2 – Pädiatrie“ trägt, bescheinigt, die Beschwerdeführerin leide an paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie und sei deshalb im Jahr 2009 psychiatrisch behandelt worden. Im Gespräch sei sie abweisend und gereizt gewesen. Auf Fragen nach ihrem Befinden habe sie nicht geantwortet, sondern darauf verwiesen, „nicht allein zu sein“. Die Beschwerdeführerin sei nicht krankheitseinsichtig und beziehe ihre Tochter in die Krankheit mit ein. Eine fachpsychiatrische Behandlung sei wegen Fremdgefährdung der Tochter wichtig.

Auf Antrag des Landkreises, Gesundheitsamt, vom 29. August 2014 ordnete das Amtsgericht durch mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 30. August 2014 nach Anhörung der Beschwerdeführerin und der Fachärztin H. im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Unterbringung der Beschwerdeführerin in einer geschlossenen Einrichtung an. Aufgrund der ärztlichen Stellungnahme vom 29. August 2014 sowie der weiteren Einschätzung der Ärztin H. im Termin bestünden dringende Gründe für die Annahme, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringungsmaßnahme gegeben seien und mit einem Aufschub eine so erhebliche Gefahr für die Beschwerdeführerin verbunden wäre, dass sie sofort untergebracht werden müsse (§ 331 Satz 1, § 312 Satz 1 Nr. 3 FamFG i.V.m. § 11 PsychKG M-V). Die Beschwerdeführerin habe nicht erklären können, warum sie ihre Tochter einem ärztlichen Drogentest habe unterziehen wollen. Insbesondere gegenüber der Ärztin H. habe sie sehr laut und aggressiv reagiert. Nach Auffassung der Ärztin H. könne eine medikamentöse Behandlung alsbald erforderlich werden, die gegen den Willen der Beschwerdeführerin nur unter den Bedingungen einer geschlossenen stationären Unterbringung möglich sei. Ohne eine solche Behandlung sei eine Zunahme der Aggressivität, des Verlustes der Steuerungsfähigkeit und des grundsätzlichen Misstrauens gegenüber Dritten zu erwarten. Die von der Beschwerdeführerin ausgehende Gefahr stelle sich sowohl als eigengefährdend als auch – in Bezug auf die Tochter – als fremdgefährdend dar. Durch das krankhafte Verhalten der Beschwerdeführerin bestehe eine erhebliche, gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit, die nicht anders als durch die Unterbringung der Beschwerdeführerin abgewendet werden könne.

Der sofortigen Beschwerde gegen die Anordnung half das Amtsgericht nach erneuter Anhörung der Beschwerdeführerin nicht ab. Das Landgericht wies die sofortige Beschwerde durch mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 5. September 2014 zurück.

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Handlungsweise der Ärzte, den Beschluss des Amtsgerichts vom 30. August 2014 und den Beschluss des Landgerichts vom 5. September 2014. Die Unterbringung sei zu Unrecht angeordnet worden. In keiner der Anhörungen sei der Sachverhalt ausreichend aufgeklärt worden. Der Unterbringung habe es nicht bedurft. Damit rügt sie in der Sache eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

 

 

Die Freiheit der Person ist unverletzlich (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG). In diese Freiheit darf gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes eingegriffen werden. Inhalt und Reichweite eines freiheitsbeschränkenden Gesetzes sind von den Fachgerichten so auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten. Ungeachtet des hohen Ranges des hier geschützten Grundrechts ist es allerdings auch in diesem Bereich in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte, den Sinn des Gesetzesrechts mit Hilfe der anerkannten Methoden der Rechtsfindung zu ergründen und den Anwendungsbereich des Gesetzes zu bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht kann erst korrigierend tätig werden, wenn das fachgerichtliche Auslegungsergebnis über die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen hinausgreift, insbesondere wenn es mit Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf persönliche Freiheit nicht zu vereinbaren ist (vgl. BVerfGE 65, 317 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 1998 – 2 BvR 2270/96 -, NJW 1998, S. 1774 ).

Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt zum einen Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine hinreichende tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 1998 – 2 BvR 2270/96 -, NJW 1998, S. 1774 ).

Zum anderen ist die Freiheit der Person ein so hohes Rechtsgut, dass sie nur aus besonders gewichtigem Grund angetastet werden darf (vgl. BVerfGE 45, 187 ). Die Einschränkung dieser Freiheit ist daher stets der strengen Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen. Sie ist in der Regel nur zulässig, wenn sie der Schutz der Allgemeinheit oder der Rechtsgüter anderer verlangt (vgl. BVerfGE 58, 208 ). Indes kann sie sich auch durch den Schutz des Betroffenen rechtfertigen. Die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft schließt auch die Befugnis ein, den psychisch Kranken, der infolge seines Krankheitszustandes und der damit verbundenen fehlenden Einsichtsfähigkeit die Schwere seiner Erkrankung und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen nicht zu beurteilen vermag oder trotz einer solchen Erkenntnis sich infolge der Krankheit nicht zu einer Behandlung entschließen kann, zwangsweise in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen, wenn sich dies als unumgänglich erweist, um eine drohende gewichtige gesundheitliche Schädigung von dem Kranken abzuwenden. Dabei drängt es sich auf, dass dies nicht ausnahmslos gilt, weil schon im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei weniger gewichtigen Fällen eine derart einschneidende Maßnahme unterbleiben muss und somit auch dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die „Freiheit zur Krankheit“ belassen bleibt (vgl. BVerfGE 58, 208 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 1998 – 2 BvR 2270/96 -, NJW 1998, S. 1774 ).

Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht.

Dabei bedarf im Hinblick auf die nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gebotene Aufklärung des Sachverhalts keiner Entscheidung, ob den Beschlüssen mit der ärztlichen Stellungnahme vom 29. August 2014 ein den Anforderungen des § 331 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FamFG genügendes ärztliches Zeugnis zugrunde liegt. Dies begegnet Bedenken, da die Stellungnahme ausweislich des Stempels aus der Kinderklinik stammt, soweit ersichtlich ohne Untersuchung der Beschwerdeführerin erstellt und durch die behandelnde Ärztin erst vor dem Landgericht telefonisch ergänzt wurde. Die Frage bedarf indes keiner Entscheidung, da die angegriffenen Beschlüsse selbst bei Zugrundelegung dieser Stellungnahme und ihrer (fern-)mündlichen Ergänzungen durch die Ärztinnen H. und Dr. W. verfassungsrechtlich zu beanstanden sind.

Das Amtsgericht stützt die einstweilige Anordnung der vorläufigen Unterbringung eingangs der Beschlussbegründung darauf, die Voraussetzungen der § 331 Satz 1, § 312 Satz 1 Nr. 3 FamFG in Verbindung mit § 11 PsychKG M-V seien erfüllt, da dringende Gründe für die Annahme bestünden, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringungsmaßnahme gegeben seien und mit einem Aufschub eine so erhebliche Gefahr für die Beschwerdeführerin verbunden sei, dass sie sofort untergebracht werden müsse. Insoweit fehlt es an der erforderlichen Sachverhaltsaufklärung. Die Annahme einer die sofortige Unterbringung gebietenden Selbstgefährdung der Beschwerdeführerin ist nicht auf tatsächliche Feststellungen gestützt. Die ärztliche Stellungnahme vom 29. August 2014 gibt weder für die Annahme einer Eigengefährdung der Beschwerdeführerin noch für das Vorliegen dringender Gründe dafür, dass mit dem Aufschub der Unterbringung eine Gefahr für die Beschwerdeführerin verbunden gewesen wäre, etwas her. Sie führt lediglich aus, dass die Beschwerdeführerin an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie leide, in die sie ihre neunjährige Tochter miteinbeziehe, sodass eine fachpsychiatrische Behandlung „wegen einer Gefährdung der Tochter wichtig“ sei. Darauf, dass die Beschwerdeführerin ihr eigenes Leben oder ihre eigene körperliche Unversehrtheit gefährdete, lässt sie nicht schließen. Die Einschätzung der Ärztin H. im Termin fasst das Amtsgericht zwar dahingehend zusammen, dass sich die von der Beschwerdeführerin ausgehende Gefahr sowohl als eigen- als auch zu Lasten der Tochter fremdgefährdend darstelle. Dazu, worin die Eigengefährdung bestehe, wie sie sich zeige und warum sie eine umgehende Unterbringung gebiete, lässt der Beschluss indes keine Sachaufklärung erkennen.

Daneben hält das Amtsgericht fest, eine erhebliche, gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 11 Abs. 1 PsychKG M-V bestehe wegen der Gefährdung der Tochter. Diese Schlussfolgerung ist zwar aufgrund der ärztlichen Stellungnahme vom 29. August 2014 und der Einlassung der Ärztin H. im Termin nachvollziehbar. Insoweit fehlt es jedoch zum einen an tatsächlichen Feststellungen dazu, dass nach § 331 Satz 1 Nr. 1 FamFG ein dringendes Bedürfnis für eine sofortige Unterbringung der Mutter bestand, sowie zum anderen an der auf der Grundlage dieser Feststellungen vorzunehmenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit der sofortigen Unterbringung der Mutter. So ist das Amtsgericht zwar davon ausgegangen, dass die Gefährdung der Tochter nicht anders als durch die sofortige Unterbringung der Mutter abgewendet werden könne. Dabei ist jedoch schon nicht ohne Weiteres ersichtlich und hätte deshalb der weiteren Aufklärung und Prüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bedurft, ob die Unterbringung der Mutter zum Schutz der Tochter geeignet, erforderlich und angemessen war.

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