OGH (Österreich), Beschluss vom 29.10.2014, 7Ob139/14p

Der Bewohner leidet an einer weit fortgeschrittenen paranoiden Schizophrenie. Derzeit ist das Krankheitsbild einerseits durch eine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit, andererseits durch wiederkehrende Impuls- und Aggressionsdurchbrüche gekennzeichnet. Die Schnittstelle zwischen Innen- und Außenwelt des Bewohners ist massiv gestört, wodurch er auf einer logisch/rationalen Ebene nur wenig zugänglich ist. Es hat den Anschein, als leide er unter optischen und akustischen Halluzinationen.

Seit Oktober 2005 lebt er im Geriatriezentrum auf der Station 3. Dort betreuen diese sechs Bewohner derzeit tagsüber zwei Pflegepersonen, in der Nacht eine Pflegeperson. Tagsüber ist zusätzlich die Stationsleiterin anwesend. Zum Betreuungsteam zählen auch pädagogische Mitarbeiterinnen. Sämtliche Betreuungspersonen verfügen über qualifizierte Ausbildungen (diplomiertes Pflegepersonal oder pädagogische Ausbildungen). Sämtliche Bewohner der Wohngruppe neigen zu aggressiven Handlungen, weshalb es häufig zu Konflikten unter den Bewohnern kommt.
Zusätzlich zum Pflegepersonal wurde daher ein Sicherheitsdienst der Firma S***** installiert. In der Zeit zwischen 07:00 Uhr und 19:00 Uhr sind zwei Mitarbeiter, in der Zeit von 19:00 Uhr bis 07:00 Uhr ist ein Mitarbeiter im Einsatz. Die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes müssen eine Schulung zum Thema „Gewalt, Aggressions- und Deeskalationsmanagement im Gesundheitswesen“ durch befugte und zugelassene Trainer mit Praxisnachweis in einem psychiatrischen Krankenhaus, eine Sozialtherapie und jährlich eine psychologische und sozialtherapeutische Schulung in Bezug auf den Umgang mit psychisch kranken Personen durch einen Facharzt der Neurologie und Psychiatrie vorweisen können.
Von Seiten der Einrichtung wurde die Anweisung erteilt, dass Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes von jedem Mitarbeiter des Therapiezentrums bei Bedrohung durch Patienten, bei sich anbahnenden Konfliktmöglichkeiten zum Schutz vor körperlichen Übergriffen – so wenn bei der Durchführung von Pflegehandlungen eskalierende Zwischenfälle erwartet werden -, zur Begleitung von Patiententransporten und zur Unterstützung beim Lösen von Fixierungen usw angefordert werden können. Die Leitung des Einsatzes erfolgt durch das verantwortliche medizinische und pflegerische Personal.

Auf Grund des distanzlosen Verhaltens des Bewohners kommt es häufig zu Konfliktsituationen, in denen von Bewohnern aggressive Handlungen gegen andere Personen gesetzt werden. Dabei kam es bereits auch zu Verletzungen des Pflegepersonals. Das aggressive Verhalten des Bewohners wird nahezu immer dadurch beendet, dass der Sicherheitsdienst zugezogen und der Bewohner ruhig weggeführt wird. Bei Konflikten mit anderen Bewohnern werden die Konfliktpartner getrennt und der Bewohner von einer Pflegeperson gemeinsam mit einem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes ohne weiteren Krafteinsatz weggeführt.

Auf Grund des Umstands, dass der Bewohner fremdaggressive Tendenzen aufweist und auch örtlich nicht orientiert ist, sich daher im Gelände des Therapiezentrums verlaufen und nicht wieder zurückfinden würde, wurde am 9. 9. 2010 von der Ärztin die Freiheitsbeschränkung des Hinderns am Verlassen eines Bereichs mittels Androhung/Anordnung des Zurückhaltens durch Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes angeordnet. Sie dokumentierte dies schriftlich und verständigte den Verein.

Am 25. 3. 2014 wirkte der Bewohner bereits morgens angespannt und unruhig. Am Nachmittag schlug er im Raucherzimmer auf einen Mitbewohner ein. Da die orale Medikation ohne Wirkung blieb und der Bewohner im deeskalierenden Gespräch nicht erreichbar war, ordnete der diensthabende Arzt die Behandlung mit einer Ampulle Cisordinol acutard und einer Ampulle Gewacalm an. Am 25. 4. 2014 schlug der Bewohner ohne weitere Vorankündigung mit der Faust gezielt in das Gesicht eines Pflegers, der zu Boden ging und sich eine Rissquetschwunde zuzog. Der diensthabende Arzt ordnete eine Zusatzmedikation zur Morgenmedikation an, die der Bewohner jedoch teilweise wieder ausspuckte. In weiterer Folge wurde dem Bewohner eine Ampulle Gewacalm und zwei Ampullen Cisordinol acutard verabreicht. Die genannte Medikation hat den Zweck, die psychotische Dekompensation des Bewohners zu behandeln und eine krankheitsmodifizierende Wirkung herbeizuführen. Durch diese Medikation war der Bewohner in seinem Bewegungsdrang in keinster Weise eingeschränkt.

Das Erstgericht wies den Antrag, die dem Bewohner laufend verabreichte Medikation als medikamentöse Freiheitsbeschränkung für unzulässig zu erklären, ab (Punkt 1.). Weiters wies es den Antrag, die dem Bewohner am 25. 3. 2014 verabreichte Einmalgabe von einer Ampulle Cisordinol acutard und einer Ampulle Gewacalm und die am 25. 4. 2014 verabreichte Einmalgabe von zwei Ampullen Cisordinol acutard und einer Ampulle Gewacalm als medikamentöse Freiheitsbeschränkung für unzulässig zu erklären, ab. Letztlich erklärte es die am Bewohner vorgenommene Freiheitsbeschränkung durch Androhung bzw Anordnung des Zurückhaltens durch Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes bis zum 15. 11. 2014 für zulässig.
Die medikamentöse Behandlung stelle keine Freiheitsbeschränkung dar, weil keine Sedierung des Bewohners bewirkt, sondern therapeutische Ziele verfolgt worden seien. Der Bewegungsdrang des Bewohners sei nicht eingeschränkt worden. Die Freiheitsbeschränkung durch Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes sei zulässig. Konkrete und ausreichende Pflege- und Betreuungsalternativen stünden nicht zur Verfügung. Alternative Formen eines erhöhten Personaleinsatzes erforderten umfangreiche organisatorische Maßnahmen, deren Durchführbarkeit nicht innerhalb von sechs Monaten zu bewerkstelligen sei.

Die zweite Instanz bestätigte diesen Beschluss. Die Dauermedikation, aber auch die Notfallmedikation bei den akuten Gewaltdurchbrüchen am 25. 3. und 25. 4. 2014 sei nicht auf Hinderung des Bewegungsdrangs und Sedierung, sondern auf die Lösung von Angstzuständen und psychotischen Zuständen gerichtet gewesen. Insoweit lägen keine unzulässigen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen vor. Die Mitarbeiter des privaten Sicherheitsdienstes würden zwar zu pflegerischen Maßnahmen in der Form beigezogen, dass sie dabei körperlich anwesend seien, ohne aber selbst pflegerische oder mit der Behandlung im Zusammenhang stehende Handlungen zu setzen.

Rechtliche Beurteilung

I. Zur medikamentösen Freiheits-beschränkung:

1. Es kann nicht entscheidend sein, ob eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit durch physische Zwangsmittel wie Einsperren oder Festbinden des Patienten oder durch pharmakologische Beeinflussung erfolgt, die eine massive Beschränkung der Bewegungsfreiheit bezweckte. Auch stark sedierende Mittel haben zur Folge, dass der Patient nicht mehr in der Lage ist, sich nach seinem freien Willen örtlich zu verändern (RIS-Justiz RS0106974). Eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel ist nur zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele ergeben könnte (RIS-Justiz RS0121227).
2. Nach den Feststellungen erfolgte die Verabreichung von Cisordinol actuard und Gewalcam nicht zur Ruhigstellung, sondern zur Behandlung der psychotischen Dekompensation und zur Herbeiführung einer krankheitsmodifizierenden Wirkung. Durch die Verabreichung der Medikamente wurde der Bewohner auch in keiner Weise in seinem Bewegungsdrang eingeschränkt.
II. Zur Freiheitsbeschränkung durch Androhung, Anordnung des Zurückhaltens durch Sicherheitswachebeamte:

Eine Freiheitsbeschränkung setzt nicht notwendigerweise die Anwendung physischen Zwangs voraus. Es genügt auch dessen Androhung. Der Begriff der Androhung ist im spezifischen Konnex der Pflege oder Betreuung des Betroffenen zu verstehen. Es ist nicht erforderlich, dass ihm von der anordnungsbefugten Person oder anderen Bediensteten konkret mit freiheitsentziehenden Maßnahmen ‚gedroht‘ wird. Vielmehr reicht es aus, wenn er aus dem Gesamtbild des Geschehens den Eindruck gewinnen muss, dass er den Aufenthaltsort nicht mehr verlassen kann. …
In solchen Fällen wird es also darauf ankommen, ob der Bewohner ungehindert von äußerem Zwang seinen Aufenthaltsort nach freiem Willen verlassen kann oder mit einem physischen Zugriff rechnen muss. …“

Im vorliegenden Fall ordnete die Ärztin die Freiheitsbeschränkung des Hinderns des Bewohners am Verlassen eines Bereichs mittels Androhung/Anordnung des Zurückhaltens durch Mitarbeiter des privaten Sicherheitsdienstes an. Die Anordnung umfasst auch den physischen Zugriff, um den Bewohner am Verlassen der Station ohne Begleitung zu hindern, dies vor allem auch, um zu vermeiden, dass er sich auf Grund der mit seiner Erkrankung einhergehenden fehlenden örtlichen Orientierung verläuft.

Der Gesetzgeber erachtet es damit für notwendig, dass insbesondere Menschen mit psychischen Störungen und neurologischen Erkrankungen nur von Personen betreut und gepflegt werden dürfen, die für diese sehr anspruchsvolle Aufgabe entsprechend seinen Vorgaben ausgebildet sind. Dies dient deren Schutz, weil damit gewährleistet werden soll, dass die Pflegepersonen sowohl in psychischer als auch physischer Hinsicht adäquat auf den Kranken eingehen können und eine zweckmäßige Behandlung unter größtmöglicher Schonung erfolgen kann.

Die Durchführung der ärztlichen Anordnung, die das Festhalten des Bewohners beim Versuch des Verlassens der Station zu hindern, um ihn vor der drohenden Selbstgefährdung des Verlaufens zu schützen, gehört zur Betreuung und Pflege von Menschen mit psychischen Störungen und neurologischen Erkrankungen und damit zur psychiatrischen Gesundheits- und Krankenpflege.

Sofern der Arzt die von ihm angeordnete Freiheitsbeschränkung durch Anordnung der Androhung/ Anordnung des Festhaltens des Bewohners beim Verlassen der Station nicht selbst durchführt, hat das diplomierte Krankenpflegepersonal die Durchführungsverantwortung. Es besteht das gleiche Schutzbedürfnis wie bei anderen Pflegemaßnahmen. Damit ist das von der Anordnung umfasste Festhalten als eine Pflegehandlung dem Pflegepersonal nach den oben dargelegten gesetzlichen Regelungen vorbehalten.

Eine Notfallsituation (eine aktuelle oder unmittelbar drohende Gefährdung von notwehrfähigen Rechtsgütern wie unter anderem Leib, Leben und Gesundheit), die in dieser Ausnahmesituation einen Rechtfertigungsgrund für jedermann, also auch hinsichtlich des Einschreitens der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes darstellen könnte (§ 19 ABGB, § 3 StGB), wurde nicht festgestellt, sodass sich weitere Ausführungen dazu erübrigen.

Link zur Entscheidung

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