LSG Sachsen, Urteil vom 10.07.2006,  L 1 B 267/05 KR-ER

Der Beschwerdeführer begehrt die Versorgung mit einem individuell angepassten Multifunktionsrollstuhl.

Der 1964 geborene Beschwerdeführer ist bei der Beschwerdegegnerin krankenversichert.Am 07.08.2004 erlitt er im häuslichen Bereich bei einem Sturz multiple Schädel- und Hirnverletzungen. In der Folge entwickelte sich ein apallisches Syndrom (so genanntes Wachkoma) mit links betonter spastischer Tetraparese. Im Anschluss an eine Neurologische Rehabilitation daran wurde er in das Altenpflegeheim aufgenommen, wo er seither lebt. Er ist schwerstpflegebedürftig und bezieht entsprechend der Pflegestufe III Leistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) als Wachkomapatient in der Phase F.

Am 23.03.2005 stellte die Klink eine Hilfsmittelempfehlung über einen angepassten Rollstuhl-Pflegerollstuhl Hilfsmittelverzeichnis-Nr. 18.50.02.5 über 4.046,74 EUR.

 

 

Die Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Versorgung mit einem individuell angepassten Multifunktionsrollstuhl im Wege der einstweiligen Anordnung liegen vor.

Nach § 33 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Versicherte, die auf Grund einer Krankheit oder Behinderung die Fähigkeit zum selbständigen Gehen oder Stehen verloren haben, können hiernach zur Erhaltung ihrer Mobilität einen Rollstuhl als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen, soweit Gehhilfen einfacherer oder preiswerterer Art (z.B. Gehstock, Krücken, Rollator) nicht ausreichen (BSG, Urteile vom 10.02. 2000 – B 3 KR 26/99 R – BSGE 85, 287 = SozR 3-2500 § 33 Rn. 37, Rn. 16; B 3 KR 17/99 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 36, Rn. 14).

Ein Rollstuhl ist kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil er von Gesunden nicht benützt wird. Rollstühle werden auch nicht von der Regelung des § 34 Abs. 4 SGB V erfasst (BSG, Urteile vom 10.02.2000, a. a. O.). Der Beschwerdeführer als Wachkomapatient in der Phase F ist derzeit nicht in der Lage, einfachere oder preiswertere Gehhilfen zu benützen. Der Beschwerdeführer bedarf eines Rollstuhles.

Die Versorgung des Beschwerdeführers mit dem begehrten Multifunktionsrollstuhl ist erforderlich, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, § 33 Abs. 1 Satz 1 Variante 1 SGB V. Der Beschwerdeführer befindet sich in einer Phase der Rekonvaleszenz nach dem Erleiden schwerwiegender Schädel- und Hirnverletzungen. Mit Hilfe von Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie finden intensive Anwendungen statt, die zu einer deutlichen Steigerung der Vigilanz und damit eine Besserung des Gesundheitszustandes geführt haben. Die behandelnde Ergotherapeutin B., der Hausarzt T. und der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. L. berichten übereinstimmend und nachvollziehbar, dass die Mobilisierung ein wesentlicher Bestandteil der ergotherapeutischen Anwendungen ist. Eine mehrstündige Mobilisierung des Beschwerdeführers wäre zum jetzigen Zeitpunkt möglich, scheitert aber am fehlenden individuell angepassten Rollstuhl. Dem Rollstuhl kommt damit eine Schlüsselrolle im ergotherapeutischen Behandlungsplan zu. Bessere ergotherapeutische Fortschritte sind durch das Fehlen des Rollstuhles schon seit einigen Monaten verhindert worden. Damit benötigt der Beschwerdeführer den Rollstuhl derzeit primär, um den Erfolg der Krankenbehandlung in Form der Ergotherapie zu sichern.

Der Ausgleich einer Behinderung, dem der Rollstuhl ebenfalls dient, tritt demgegenüber in den Hintergrund.

Die Anwendung des § 33 SGB V ist nicht ausgeschlossen, weil der Beschwerdeführer pflegebedürftig im Sinne der §§ 14, 15 SGB XI ist, obwohl der begehrte Rollstuhl auch der Erleichterung seiner Pflege dient. Ein Anspruch gegen die Pflegekasse der Beklagten scheidet schon deshalb aus, weil die Pflegekassen nur für die Versorgung der Versicherten mit Pflegehilfsmitteln im häuslichen Bereich zuständig sind, nicht aber im stationären Bereich (BSG, Urteile vom 10.02.2000, – B 3 KR 26/99 R, a. a. O., Rn. 17; B 3 KR 17/99 R, a. a. O., Rn. 15).

Der Versorgungsanspruch des Beschwerdeführers aus § 33 SGB V wird ferner auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass er sich in einem Pflegeheim befindet und dort vollstationär gepflegt wird. Der Versorgungsanspruch nach § 33 SGB V ruht nicht generell während eines Heimaufenthaltes. Nach der seit dem 01.01.1989 geltenden Rechtslage sind die Krankenkassen für die Versorgung eines Versicherten mit Hilfsmitteln grundsätzlich unabhängig davon verpflichtet, ob er in einer eigenen Wohnung oder einem Pflegeheim lebt (BSG, Urteile vom 10.02.2000, – B 3 KR 26/99 R, a. a. O., Rn. 19 f.; B 3 KR 17/99 R, a. a. O., Rn. 16 ff.; Urteil vom 28.05.2003 – B 3 KR 30/02 R – SozR 4-2500 § 33 Nr. 4; Urteil vom 22.07. 2004 – B 3 KR 5/03 R – SozR 4-2500 § 33 Nr. 5). Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht ohne Einschränkung. Die Pflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zur Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln endet nach der gesetzlichen Konzeption des SGB V und des SGB XI dort, wo bei vollstationärer Pflege die Pflicht des Heimträgers zur Versorgung der Heimbewohner mit Hilfsmitteln einsetzt. Bei vollstationärer Pflege hat der Träger des Heimes für die im Rahmen des üblichen Pflegebetriebs notwendigen Hilfsmittel zu sorgen, weil er verpflichtet ist, die Pflegebedürftigen ausreichend und angemessen zu pflegen, sozial zu betreuen und mit medizinischer Behandlungspflege zu versorgen. Die Heime müssen daher das für die vollstationäre Pflege notwendige Inventar bereithalten. Hierzu zählen alle Hilfsmittel, die der ‚Sphäre‘ der vollstationären Pflege zuzurechnen sind (BSG, Urteile vom 10.02.2000, – B 3 KR 26/99 R, a. a. O., Rn. 20; B 3 KR 17/99 R, a. a. O., Rn. 18; Urteil vom 06.06.2002 – B 3 KR 67/01 R – BSGE 89, 271 = SozR 3-2500 § 33 Nr. 43). Nicht der ‚Sphäre‘ des Pflegeheimes zuzurechnen sind individuell angepasste Hilfsmittel, die ihrer Natur nach nur für den einzelnen Versicherten bestimmt und grundsätzlich nur für ihn verwendbar sind (z.B. Brillen, Hörgeräte, Prothesen); Hilfsmittel, die der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses außerhalb des Pflegeheimes dienen (BSG, Urteile vom 10.02.2000, a. a. O. ; Urteil vom 06.06. 2002, a. a. O.; Urteil vom 28.05. 2003, a. a. O.).

Der Beschwerdeführer hat glaubhaft gemacht, dass es sich bei dem von ihm begehrten Multifunktionsrollstuhl um ein individuell angepasstes Hilfsmittel im Sinne der oben genannten ersten Alternative handelt. Der individuell angepasste Rollstuhl dient der Krankenbehandlung. Nur durch seine Bereitstellung wird die Anwendung von Ergotherapie im derzeit erforderlichen Umfang ermöglicht. Die Bereitstellung eines Rollstuhles zur Ermöglichung von intensiverer Krankenbehandlung fällt nicht in den pflegerischen Auftrag des Pflegeheimes. Bereits aus dem Therapiebericht der Ergotherapeutin B. vom 02.02. 2006 ergibt sich, dass er in den letzten Monaten kontinuierliche Fortschritte gemacht hat und in der Lage ist, kleinen Aufforderungen, die auf das Heben des Armes oder das Anstellen des Beines gerichtet sind, nachzukommen. An dem Alltagsgeschehen um ihn herum ist er sehr interessiert. Durch Augenschluss kann er Wünsche nach einer Pause oder Ruhe äußern. Bestätigt wird diese Einschätzung durch die Befundberichte des behandelnden Hausarztes T. vom 23.01.2006 und vom 12.04.2006, der eine deutliche Verbesserung der Vigilanz des Beschwerdeführers bestätigt und mitteilt, dass man mit ihm Kontakt aufnehmen kann. Auch der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. L. bestätigt in seinem Bericht vom 08.05.2006, dass der Beschwerdeführer im vergangenen Jahr entscheidende Fortschritte gemacht hat. Das organische Psychosyndrom ist Dr. L. zufolge soweit remittiert, dass der Beschwerdeführer sein Umfeld intensiv wahrnimmt, nonverbal kommuniziert und bei der Ergotherapie aktiv mitarbeitet.

Um hier weitere Fortschritte zu erreichen, muss der Beschwerdeführer längere Zeit in den Sitz mobilisiert werden können. Auch zur Vermeidung von Wirbelsäulenschäden und Dekubiti an Armen, Beinen und dem Gesäß benötigt der Beschwerdeführer einen Rollstuhl, der nach einem Abdruck vom Körper des Versicherten mit einer individuell angefertigten Sitzschale versehen wird. Durch die Vorlage der Bescheinigung des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin T. vom 12.04.2006 ist hinreichend glaubhaft gemacht, dass bei dem Beschwerdeführer eine Besonderheit vorliegt, die eine solche außergewöhnliche Anpassung erfordert. Folglich handelt es sich auch unter diesem Gesichtspunkt um ein individuell angepasstes Hilfsmittel im oben genannten Sinne, das nur vom Beschwerdeführer selbst benutzt werden kann und ansonsten nutzlos wäre. In der Zusammenschau aller vorliegenden Unterlagen ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf Versorgung mit einem individuell angepassten Multifunktionsrollstuhl damit glaubhaft gemacht. Der Beschwerdeführer ist durch den durch das Pflegeheim zur Verfügung gestellten Rollstuhl nicht ausreichend versorgt. Zwischen den Beteiligten ist vielmehr unstreitig, dass das vom Beschwerdeführer derzeit genutzte Modell für seine Bedürfnisse nicht geeignet ist. Dies ist zudem durch die Photographien vom 23.03.2006 nachgewiesen. Auf Grund dieser Aufnahmen ist es bereits für den medizinischen Laien ohne weiteres erkennbar, dass der vom Beschwerdeführer derzeit genutzte Rollstuhl weder von der Größe noch von der Form und Ausstattung her den Bedürfnissen des Beschwerdeführers gerecht wird.

Der Beschwerdeführer hat auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Ihm drohen schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die auch später nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn er nicht unverzüglich mit dem begehrten individuell angepassten Multifunktionsrollstuhl versorgt wird.

Nicht zuletzt im Hinblick auf die in Art. 1 GG geschützte Menschenwürde und den Schutz der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ist dem Beschwerdeführer unter diesen Umständen ein weiteres Zuwarten nicht zumutbar. Zusätzlich birgt der weitere Zeitablauf für den Beschwerdeführer die Gefahr in sich, dass er auf Grund des derzeit nur vorhandenen unzureichenden Rollstuhles Wirbelsäulenschäden oder Dekubiti erleidet.

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