OLG Stuttgart, Beschluss vom 29.6.2004, 8 W 239/04

Die Aufgabenkreise „Aufenthaltsbestimmung und Gesundheitsfürsorge“ geben ausreichende Befugnis eines Betreuers, ein Verfahren auf Genehmigung der Unterbringung zu betreiben; eine ausdrückliche Erweiterung seines Aufgabenkreises auf „freiheitsentziehende Maßnahmen“ ist nicht erforderlich.

OLG Stuttgart,  Beschluss vom 29.6.2004, 8 W 239/04

 

Auch wenn der Aufgabenbereich „Gesundheitsfürsorge“ allein nach herrschender Ansicht für eine Unterbringung nicht ausreicht und auch wenn umstritten ist, ob der Aufgabenkreis „Personensorge“ schon eine Unterbringung rechtfertigt, ist es allgemeine Ansicht, dass bereits der Aufgabenkreis „Aufenthaltsbestimmung“ die Befugnis zur freiheitsentziehenden Unterbringung umfasst (Staudinger/Bienwald, BGB Bearb. 1999, Rn 20; Soergel/Zimmermann, BGB 13. Aufl. 2000, Rn 12/13; MünchKommBGB/Schwab, 4. Aufl. 2002 Rn 6; Erman/A. Roth, BGB 11.Aufl. 2004, Rn 9; Bamberger/Roth/G.Müller, BGB 2002, Rn 3; HK-BUR/Rink (Losebl) Rn 10/12; Jürgens, BtR 2. Aufl. 2001, Rn 2, je zu § 1906 m.w.N.). Dem gemäß hat das Bayerische Oberste Landesgericht fortgesetzt formuliert: „Der Betreuer darf den Betreuten freiheitsentziehend nur dann unterbringen, wenn ihm die Aufenthaltsbestimmung zusteht und das Vormundschaftsgericht die Unterbringung genehmigt.“ (BayObLGZ 1993,18 = FamRZ 1993,600 = MDR 1993,545; FamRZ 1993,998; FamRZ 1994,320; BtPrax 1996,28; FamRZ 1998, 1327 = NJW-RR 1998,1014; ähnlich FamRZ 1999,1299; FamRZ 2002,908).

Vor diesem Hintergrund ist die Ansicht der Vorinstanzen, dass selbst der kombinierte Aufgabenkreis „Aufenthaltsbestimmung und Gesundheitsfürsorge“ dem Betreuer nicht die Befugnis verleihen soll, ein Unterbringungsgenehmigungsverfahren einzuleiten, nicht nachvollziehbar. Die beiden Hinweise auf Palandt (Diederichsen, BGB 63. Aufl. 2004) § 1896 Rn 5 und 20 tragen die abweichende Auffassung der Kammer nicht. Auch die Argumentation, mit der das Landgericht zwei als entgegenstehend erkannte obergerichtliche Entscheidungen (BayObLG FamRZ 1999,1299 und OLG Hamm (29. Zivils.) FamRZ 2001,861) als anders gelagerte Einzelfall-Entscheidung mit eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen zu überwinden sucht, überzeugt nicht.

Soweit die Rechtsprechung die Frage, ob auch weniger einschneidende Maßnahmen als eine freiheitsentziehende Unterbringung im Wege einer analogen Anwendung des § 1906 BGB genehmigungsfähig sind, im Hinblick auf das Fehlen einer gesetzlichen Ermächtigung verneint hat (bes. BGHZ 145,297 = FamRZ 2001,149 = NJW 2001,888 für den Fall der ambulanten Zwangsmedikation; OLG Hamm FamRZ 2003,255 = BtPrax 2003,42), betrifft dies allein die Zulässigkeit der durchzuführenden Maßnahmen, nicht aber die Frage, ob der Aufgabenkreis des Betreuers ausreicht. Die Frage, welche Maßnahmen nach § 1906 Abs. 1, 2 und 4 BGB jeweils genehmigungsfähig sind und für welche Maßnahmen es einer eigenständigen gesetzlichen Eingriffsermächtigung bedarf, hat unmittelbar mit der Frage der Reichweite der Aufgabenkreise des Betreuers nach § 1896 BGB nichts zu tun. Die Prüfung, ob eine und gegebenenfalls welche Betreuung erforderlich ist, ist von der Prüfung, ob eine freiheitsbeschränkende Maßnahme erforderlich ist, verfahrensrechtlich und auch gerichtsorganisatorisch getrennt.

Die systematischen Erwägungen des Beschwerdegerichts gehen fehl. Aus der Tatsache, dass das BGB in § 1896 die Voraussetzungen der Betreuung, in § 1897 bis 1899 die Anforderungen an die Betreuungsperson, in den §§ 1901 bis 1902 die Rechtswirkungen einer Betreuerbestellung und in den § 1903 bis 1908 einzelne mehr oder weniger schwerwiegende Maßnahmen regelt, lässt sich die vom Landgericht gezogene Schlussfolgerung gerade nicht ziehen. Denn die Unterbringung nach § 1906 Abs. 1, 2 BGB ist keine „singuläre“ Einzelmaßnahme, sondern steht im systematischen Zusammenhang mit weiteren Einzelmaßnahmen, die teils weniger, teilweise aber auch stärker – Sterilisation nach § 1905 BGB – in die Rechtssphäre des Betreuten eingreifen. Wäre die Ansicht des Landgerichts richtig, müsste bei Bestellung eines Betreuers mit dem Aufgabenkreis „Vermögenssorge“ jeweils auch eine Ermächtigung zur Beantragung eines Einwilligungsvorbehalts nach § 1903 erteilt werden. Dies ist bis jetzt – soweit ersichtlich – noch nirgends angenommen worden, auch nicht von Vorinstanzen.

Vielmehr ergeben sich aus der Systematik des Betreuungsrechts durchschlagende Bedenken gegen die Rechtsansicht der Beschwerdekammer und des Amtsgerichts. Die in die Rechtssphäre des Betreuten in besonders starkem Maße eingreifenden Einzelmaßnahmen der §§ 1903 bis 1908 sind mit zusätzlichen, aber jeweils unterschiedlichen Verfahrensgarantien zum Schutz des Betreuten ausgestattet. Für die – zweifelsohne schwerwiegende – Einzelmaßnahme einer Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt ist ein spezielles Genehmigungsverfahren, das unter Richtervorbehalt steht (vgl. Art. 104 Abs. 2 GG), vorgeschrieben, das mit zahlreichen weiteren verfahrensrechtlichen Garantien ausgestattet ist (vgl. §§ 70 ff. FGG). Dagegen sind die Eingriffsvoraussetzungen für eine – vom Rechtspfleger bzw. Notar vorzunehmende – Betreuerbestellung deutlich niedriger angesetzt, um überhaupt einen Ansatz für eventuelle fürsorgliche Hilfsmaßnahmen zu eröffnen. Deshalb ist die Erforderlichkeit einer Betreuerbestellung für einen oder mehrere Aufgabenkreise von der Erforderlichkeit einer Unterbringung zu trennen.

Die vom Landgericht vertretene Vorverlagerung der Prüfung der Unterbringungsbedürftigkeit in das Betreuungsverfahren bürdet dem Notar (bzw. in anderen Bundesländern dem Rechtspfleger) eine Vorprüfung auf, die dem Richter vorbehalten ist. Ebenso wenig systemgerecht ist es, wenn dem Sachverständigen, der sich zur Notwendigkeit einer Betreuungsanordnung und den Aufgabenkreisen äußern soll, bereits zwingend abverlangt wird, sich vorausschauend schon zur Notwendigkeit einer eventuellen Unterbringung zu äußern. Es mag zwar viele Fallgestaltungen geben, in denen die Notwendigkeit einer Unterbringung bereits so konkret absehbar ist, dass diesbezügliche Feststellungen bereits im Betreuungsanordnungsverfahren möglich sind. Daraus lässt sich aber nicht im Wege des Umkehrschlusses die Folgerung ziehen, dass bereits bei Betreuerbestellung und der Bestimmung der Aufgabenkreise die Notwendigkeit sämtlicher künftiger Eventualitäten mit bedacht werden müsste, obwohl in diesem Verfahrensstadium vielfach ein hinreichend genaues Bild von den Erforderlichkeiten noch nicht besteht. Damit würde eine Betreuerbestellung nicht nur erschwert und überfrachtet, sondern der Betroffene möglicherweise auch über das erforderliche Maß hinaus belastet.

Wie wenig die Ansicht des Beschwerdegerichts den praktischen Anforderungen eines effektiven Verfahrens gerecht wird, macht seine Forderung sichtbar, im vorliegenden Fall müsse zunächst eine vormundschaftsgerichtliche Erweiterung der Aufgabenkreise des Betreuers erwirkt werden. Dies führt nicht nur zu einer verfehlten Prüfung der Erforderlichkeit einer Unterbringung durch den überhaupt nicht zuständigen Notar bzw. Rechtspfleger, sondern im Hinblick auf die (unbefristete!) Beschwerdemöglichkeit des Betroffenen zu einer systemwidrigen Verzögerung eines an sich erforderlichen Unterbringungsverfahrens.

Zu Unrecht hat schließlich das Beschwerdegericht die auf die Materialien des Betreuungsgesetzes gestützten „historischen“ Erwägungen des Betreuers in seiner Beschwerdebegründung als unbeachtlich abgetan, obwohl sie zutreffend sind.

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